Tierschützer verärgern Juden und Muslime mit Glaubensurteilen


Eine sachgerechte Diskussion zur so genannten „Schächtung“ von warmblütigen Schlachttieren ist in Deutschland schwierig geworden. Noch engagierter als gegen das Kopftuch kämpfen beamtete und selbsternannte Tierschützer mit Sachargumenten, aber auch mit polemischen Artikeln und Fotoserien gegen muslimische Schlachter und vorsichtiger auch gegen deren jüdische Kollegen. Experten der EU-Kommission befassen sich neuerdings beim Beitrittskandidaten Türkei mit der Praxis in dessen Schlachthöfen. Nach den Menschenrechten will man Ankara auch in Sachen Tierschutz auf die europäische Linie bringen. Parallel dazu regt sich das religiös motivierte Fleisch-Marketing.

Seit Herbst 2006 überziehen Dutzende von mehr oder weniger wertvollen „Halal“-Zertifikaten den globalen Lebensmittelmarkt von Malaysia bis Toronto, von Sydney bis London. Hypermärkte im Nachbarland Frankreich, wie der Carrefour-Konzern, haben in den stark von Muslimen bewohnten Großstädten wie Mühlhausen im Elsass oder Marseille die Regalfläche für islamkonforme Fleischprodukte vervielfacht. Das Signet für „Halal“ steht weltweit für islam­konforme Lebensmittel und wird inzwischen fast ebenso gewinnträchtig vermarktet wie ein Bio-Label. Muslimische Nahrungsmittel-Produ­zen­ten und Gastronomen können sich in oftmals teuren Kursen „zertifizieren“ lassen, was schon einmal mehrere tausend Euro kosten kann.

Nach neuerer deutscher Rechtsprechung muss, laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002, eine „Schächtung“ von der jeweiligen Religionsgemeinschaft „zwingend vorgeschrieben“ sein, damit sie für die Behörden als Ausnahme genehmigungsfähig wird. In Großbritannien ist eine religionskonforme „Schächtung“ nicht nur erlaubt, sondern sie bleibt weiterhin verfassungsmäßig verbrieftes Recht jedes Briten. Alle drei britischen Par­teichefs sind zum Jahresende nacheinander im britischen „Islam TV“ aufgetreten, um anlässlich des muslimischen Opferfestes respektvolle Grußworte an ihre Wähler islamischen Glaubens aus­zurichten. Dabei wurde klar: die britische Verfassung wird nicht angetastet. Ähnlich wie beim Kopftuch befinden sich die toleranten Briten einmal mehr im Widerspruch zu Deutschland. Die EU hält sich aus jedem Religions- und Verfassungsstreit wohlweislich heraus. Brüssel weist immer wieder darauf hin, dass die Europäische Union keinem ihrer Mitgliedsstaaten die so genannte „Schächtung“ ohne Betäubung, generell verbiete. Aus diesem Grund sehe die Kommis­sion keinen Anlass, im Sinne deut­scher Tierschützer gegen britische Gesetze und Praxis einzuschreiten.

EU regelt nur Industrieschlachtungen

Die Europäische Union regelt nur Schlachtungen im gewerblich-industriellen Bereich und wird hier auch im Sinne des Tierschutzes tätig. Aus diesem Grund verlangt sie jetzt vom Beitrittskandidaten Türkei, dass dieser für seine Schlachthöfe die elektrische Betäubung der Schlachttiere anordnen müsse. Danach könne ein türkischer Schlachter das Schlachttier dann durchaus noch religionskonform „schächten“, d.h. durch einen Schnitt durch die Kehle töten, aufhängen und ausbluten lassen. Schlachtungen im privaten und religiösen Umfeld, z.B. für eine Moscheegemeinde oder für ein Opferfest, könne die Türkei dagegen wie jeder EU-Staat national regeln.

Die Befürchtung, nationale britische Religionsgemeinschaften könnten ihre Rechte miss­brauchen und z.B. muslimische Industrieschlachthöfe ein­richten, wird durch eine wirksame Selbstkontrolle, die stets aufmerksame Konkurrenz und durch den religiösen Ritus selbst verhindert. So muss ein muslimischer Schlachter kurz vor der Tötung eines Tieres die Formel sprechen „Im Namen Gottes. Gott ist der Größte! Bismillah Allahu Akbar” (letzteres zwingend in arabischer Sprache). Während eines industriellen Schlachtungsprozesses ist ein solcher Ritus gar nicht praktikabel. Dennoch versuchte in Liverpool eine islamische Schlach­terei die Quadratur des Kreises und installierte Lichtschranke plus Tonträger, von dem die Koranworte pausenlos über eine Laut­sprecher-Batterie erschallten. Der Betrieb wurde dafür von der Halal-Organisation wie von den Behörden gemaßregelt. Ein nationaler Experte kommentierte: „Religiöse Schlach­tungsriten können stets nur in kleinstem Rahmen stattfinden, so wie vor 1000 oder 2000 Jahren. Hier sieht die EU keinen Handlungs- oder Regelungsbedarf“.

Mehrere dutzend internationale Satellitensender, meist in englischer Sprache und oft in London stationiert, verbreiten stündlich die islamischen Regeln des täglichen Lebens, auch jene für Essen und Trinken. Britische Nahrungsmittel sind deshalb über­all in der islamischen Welt akzeptiert, auch jene, die gar nicht Fleisch, Wurst oder Fisch beinhalten. Im Gegensatz dazu verschwinden land­wirtschaftliche Pro­dukte aus Ländern wie Deutschland, Dänemark oder Holland zunehmend aus den Regalen im Mittleren Osten, und dies nicht nur im Nachklang zum Karikaturenstreit. Gesundheitsbewusste Araberinnen kaufen weiterhin fettarmen Quark und andere europäische Milchprodukte im Supermarkt, diese kommen inzwischen aber meist aus Frankreich und England. Der globale Lebensmittelmarkt ist hart umkämpft, die kaufkräftigen Araber in den GCC-Staaten sind begehrte Kunden, immer mehr von ihnen praktizieren ihre Religion und wollen respektiert werden. Wer sich darauf einstellt, der kann gut verkaufen. Irak-Kriegsteilnehmer Australien hat im Vorjahr seinen Fleischexport in die Golf-Staaten um unglaubliche 59% gesteigert. Bei Rind- wie bei Lammfleisch bieten die Lieferanten aus „Downunder“ neben einer exzellenten Qualität die strengste Lebens­mittelkontrolle der Welt, vor allem aber eine von der Regierung überwachte islamkonforme Schlachtung mit einem Halal-Label. Bei den jährlichen Weltkonferenzen für Halal-Lebensmittel, meist in Kuala Lumpur in Malaysia abgehalten, kommen Vertreter Deutschlands öfters in Erklärungsnöte.

In Deutschland deuten Tierschützer die Thora und den Koran

In Deutschland herrscht durch widersprüchliche Urteile diverser Verwaltungs­gerichte seit fast zehn Jahren neben Rechtsunsicherheit eine Art religiöser Verwirrung. Für das islamische wie für das angel­säch­sische Rechtsbewusstsein unverständlich, wurden die nach jüdischem Glaubensritus vorgeschriebenen „Schächtungen“ zunächst toleriert, dann sogar ausdrücklich für rechtmäßig erklärt. „Schächtungen“ durch Muslime wurden 1995 vom Bundes­ver­waltungsgericht zunächst ausnahmslos verboten. Muslime beklagen deshalb eine ihrer Meinung nach „deutsche Doppelmoral“. Diese Klagen haben inzwischen auch die Staaten am Golf erreicht und beschäftigen dort regelmäßig die deutschen Diplomaten. Der deutschen Exportwirtschaft dient das offensichtlich nicht, deutscher Außenpolitik ebenfalls nicht. Das Bun­des­verfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe reagierte 2002, hob das generelle „Schächtungsverbot“ auf und handelte sich dafür viel Schelte der Tierschützer, bis hin zu hass­erfüllten Polemiken ein. Zu den harschen Kritikern aus der Spitzenpolitik zählten vorwiegend die Sozialdemokra­ten, allen voran der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, damals noch nicht Parteivorsitzender. Der Mann aus dem Land, wo der „Saumagen“ eine Delikatesse ist, fand anno 2002 das Karlsruher Urteil „völlig unver­ständlich“. Sein Land­wirtschaftsministerium befindet sich mit einer umfangreichen Website bis heute in der Frontlinie der Lobbyisten gegen Tolerierung von jüdisch-muslimischen „Schächtungen“ und für den Vorrang des Tierschutzes.

Das Urteil des BVerfG berücksichtigte in seiner Begründung hauptsäch­lich die berufliche und religiöse Gleichstellung der muslimischen Schlachter gegenüber ihren jüdi­schen Kollegen, denen das Schächten gestattet worden war. Zusätzlich erlaubt es eine „Schächtung“ ohne Betäubung dort, wo die religiöse Vorschriften dies zwingend verlangen. Wie schon die Verwaltungsrichter von 1995, sind seitdem deutsche Islamkenner, Islamkritiker und nicht-muslimische Hobbytheologen mit hohem Auf­wand an Zeit und Geld dabei, den Koran aber auch Thora und Talmud daraufhin zu durchleuchten, ob die traditionelle „Schächtung“ nun eine „zwin­gende religiöse Vorschrift“ für Muslime und Juden sei oder eben nicht. Ihre Erkennt­nisse publiziert die Düsseldorfer Oberstudien­rätin Karola Baumann in einem eigenen Verlag namens „PAKT“ in Zusammen­arbeit mit der Tierschutzorganisationen „Provieh“. In ihren Fortsetzungsbroschüren „Ratgeber und Orientierungs­hilfe für die Prüfung von Anträgen islamischer und jüdischer Religions­ge­mein­schaften zur Genehmigung des betäubungslosen Schächtens“, übt „PAKT“ Druck auf die Kreisbehörden aus, die laut Bundes­verfas­sungs­gericht künftig Ausnahmegenehmigungen zum Schächten erlassen dürften. „PAKT“ gibt gewichtige interreligiöse Gutachten ab und will den theologischen Nachweis erbracht haben, dass keine der drei „Religionen der Buch­besitzer“ zwingende Vorschriften für die „Schächtung“ nachweisen könne, folglich könnten keine Ausnahmen gestattet werden.

Wenn keine theologischen Argu­mente mehr helfen, wird die angebliche Intoleranz der Muslime und Juden gegenüber „Andersdenkenden“ angeführt, oft haarscharf an der Grenze zu Rassismus und Antisemitismus. Zur Begründung eines strikten „Schächtungsverbots“ werden Christenverfolgungen in Saudi-Arabien ebenso bemüht wie ein weih­nachtliches Erlebnis aus Israel, wo in einem Hotel der mitgebrachte deutsche Christbaum als „Götzendienst“ bewertet worden sei und habe abgebaut werden müssen. Schockierende Fotoserien von türkischen, bosnischen und albanischen Gastarbeitern und Asylanten, die auf brutalste Weise irgendwo auf deutschen Wiesen ihre Schlachttiere erst quälen, dann abstechen und schließlich bestialisch zerstückeln, sollen die Forderung des Koran konter­karieren, der Tierschutz als Gebot vorschreibt.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten der „Buchbesitzer“

Im Gegensatz zur Volksmeinung ist muslimische „Schächtung“ nicht gleich jüdische „Schächtung“, weder religiös noch technisch. Zum besseren Verständnis müsste die Schlachtung nach abrahamitischem Ritus im Kontext mit dem arabi­schen Terminus „Dhabiha halal“ und dem hebräischen „Kaschrut“, den jüdischen Speisegesetzen, beschrieben werden. Der fundamentale Unterschied wird auch dem theologischen Laien rasch deutlich: das jüdische Speisegesetz ist weniger flexibel, d.h. restriktiver als die interpretationsfreundlicheren Vorschrif­ten der Muslime, seien sie nun Sunniten oder Schiiten. Zu eindeutig sind die Vorschriften in Thora und Talmud formuliert.

Beim „Schächten“ nach Kaschrut wird mittels eines sehr schar­fen Messers die Halsschlagader und Luft­röhre des Tieres durchgeschnitten und das Tier anschließend mit dem Kopf nach unten aufgehängt, damit es vollständig aus­blutet. Dies darf nur ein qualifi­zier­ter „Schächter“ jüdischen Glaubens (ein "Schochet") ausführen. Die Länge des Messers richtet sich nach dem zu „schächtenden“ Tier. Der Verzehr von Blut ist einem orthodoxen Juden strengstens untersagt, und die jüdische Küche kennt eine Reihe von Techniken, wie einem Stück Fleisch auch noch der letzte Tropfen Blut zu entziehen ist. Nach der „Schächtung“ folgt eine Beschau der Innereien durch einen Fachmann, wobei die Regeln hierfür vor allem im Talmud festgelegt sind. Auch von einem koscheren Tier, das gemäß der Regeln der orthodoxen jüdischen Küche „geschächtet“ wurde und vollständig ausgeblutet ist, dürfen nicht alle Teile gegessen werden. Nicht gegessen werden darf eine bestimmte Hüftsehne sowie bei Säugetieren die Fettanlagerungen rund um Magen, Pansen, Nieren und weitere Innereien. Fleisch von optimaler Qualität wird gerne als „glatt koscher“ bezeichnet.

Koran und Scharia der Muslime akzeptieren als Schlachter auch ein Mitglied eines anderen abrahamitischen „Buchbesitzers“, also einen Juden oder Christen. Ein Atheist oder Agnostiker dürfte freilich auch bei den Muslimen nicht schlachten, muss er doch kurz vor der Tötung den einen und einzigen gemein­samen Gott anrufen. Was also hindert die Muslime in Deutschland daran, zum koscheren jüdischen Fleischer zu gehen? Gar nichts, im Gegenteil: jeder sunnitische Imam wird dem Gläubigen empfehlen, dieser solle bei einem orthodoxen Juden einkaufen, denn was „koscher“ sei, das wäre auch allemal „halal“. Schon Prophet Mohamed aß regelmäßig Fleisch, welches er von einem jüdischen Schlachter erworben hatte.

Laut jüdischem Speisegesetz darf das Schlachttier unter keinen Umständen und in keinerlei Form vor der Tötung betäubt werden. Dies ist eine zwingende Religionsvorschrift im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2002, auch wenn deutsche Tierschützer inzwischen einen Rabbiner aufgetrieben haben, der das für seine Sekte nicht bestätigen wollte. Um das Schlachttier für den Schnitt durch die Halsschlagader korrekt zu fixieren, benutzen jüdische Schlachter aus­nahms­­los den so genannten Weinberg-Apparat. Nach dem Eintreiben wird das Schlachttier in diesem Apparat fixiert und anschließend für den Schnitt in den Hals auf den Rücken gedreht. Zahlreiche Veterinäre, z.B. das Landwirtschaftsministerium von Rheinland-Pfalz, lehnen diese Fixierungsmethode ab, wohl wissend, dass eine Fixierung stets schwierig ist, da die Schlachttiere nicht selten von stressgeplagten Schlachthofarbeitern per Elektrotreiber in den Apparat hineingejagt werden. Für Kenner der deutschen Industrieschlachthöfe ist denn auch die Diskussion um tiergerechte „Schächtung“ weitgehend Heuchelei. Die größten deut­schen Schlachthöfe stehen u.a. in Nordrhein-Westfalen, wo z.B. die Westfleisch AG aus Münster in ihrem Schlachthof in Minden schon vor zwei Jahrzehnten täglich 20'000 Schweine und 2'000 Rinder schlachtete. Die Internet-Wissensbörse „Wikipedia“ vermerkt dazu lexikalisch: „Die Firma West­fleisch AG und ihre Subunternehmen verlangen im Jahr 2007 von ihren Beschäftigten Schichten von zwölf Stunden Dauer an sechs Tagen der Woche.“ Hier geht es freilich nicht darum, einzelnen Schlachttieren den Hals durchzuschneiden, sondern um den „Shareholder Value“ vieler Aktionäre. Muslimische wie jüdische Kleinschlachter sind durch ihre zeit- und kraftaufwändige Arbeit selten reich geworden.

Gutachten aus Kairo nur bedingt von Wert

Das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts wird nach Auffassung von einigen Verfassungsjuristen zu Unrecht kritisiert. Karlsruhe habe sehr wohl gewusst, dass weder Juden noch Muslime beweisen könnten, dass irgend­eine Vor­schrift ihres Glaubens „zwingend“, d.h. für alle Mitglieder ihrer Religions­gemein­schaft verbindlich sei. Bekanntermaßen gäbe es orthodoxe Juden, die sich ent­sprechend kleiden, regelmäßig in der Synagoge beteten und andere, die ihre Re­li­gionsgesetze weniger streng oder gar nicht befolgten. Inzwischen wissen auch Berlin und Karlsruhe, dass die immer wieder gerne zitierte Islamische Universität Al Azhar in Kairo zwar eine der höchsten Autoritäten des Islam, aber längst nicht mehr unumstritten ist, seitdem dort der Großscheich im Range eines stellver­tretenden Ministerpräsidenten Mitglied der Regierung Mubarak ist. Zu oft wurde der Scheich von Al Azhar, Dr. Muhammad Sayyid Tantawy, für Ausländer auch „Grand Imam“ betitelt, in jüngster Zeit von den Mächtigen des Westens zu Urteilen aufgefordert. George W. Bush zitiert ihn ebenso wie Jacques Chirac und neuerdings der stramm-rechte Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy, der sogar persönlich nach Kairo geflogen war, um sein Kopftuchverbot theologisch zu untermauern. Der oft be­nutzte Vergleich zwischen dem Vatikan und Al Azhar hinkt allerdings gewaltig, denn zumindest die sunnitischen Muslime kennen gemäß Koran und in der Tra­dition ihres Propheten keinerlei theologische Hierarchie. Für sein Seelenheil und den Einzug ins Paradies ist jeder Gläubige selbst verantwortlich. Er darf weder Verbo­te­nes zu Erlaubtem erklären, noch Erlaubtes verbieten. Geradezu widersinnig erscheint es deshalb Juden wie Muslimen, wenn religionsfremde „Experten“ den Gläubigen vorschreiben wollen, was für deren Religionsausübung „zwingend not­wen­dig“ ist und was nicht.

Es ist immer mehr Europäern klar, dass sowohl unter juristischen, als auch ethischen, religiösen und politischen Aspekten der Themenkomplex der Religionsvorschriften und deren möglicher Widerspruch zu Gesetzen und Vorschriften des Staates ganzheitlich bewertet werden muss. In fast allen EU- Staaten und in der Schweiz stehen nun seit Jahrzehnten drei Themen im Fokus der öffentlichen Dis­kussion: 1) Religiös motivierte „Schächtungen“, 2) das Tragen des „Hijab“ (Kopf­tuch) durch strenggläubige muslimische Frauen und 3) der Bau von Moscheen von praktizierenden islamischen Religions­gemeinschaften. Da sich auch Muslime (und gerade Muslime) zunehmend europäisch und global vernetzen, wird es fraglich, ob die europäischen Nationalstaaten aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Traditionen überhaupt noch fähig sind, Regeln für ein multikulturelles und multireligiöses Zu­sam­menleben aufzustellen. Falls aber nicht, ist dann die EU dazu imstande? Auch ohne Juden und Muslime ist die eher wirtschaftlich als politisch motivierte Union bereits heillos in ethischer Konfusion verstrickt. Das Parade­beipiel ist allzu bekannt: Während das katholisch geprägte Irland die Abtreibung noch heftig bekämpfte und mit deftigen Freiheitsstrafen ahndete, lagen vor der Küste „Hospitalschiffe“ aus den liberalen Niederlanden und boten (zahlungskräftigen) irischen Frauen ihre Dienste an. Demgegenüber war der Krümmungsgrad der europäischen Salatgurke schon frühzeitig normiert und harmonisiert worden.

Blauäugiger Tierschutz und blutige Realität

Manche obergerichtlichen Urteile zu „Schächtungen“ las­sen auch fehlenden veterinärmedizinischen Sachverstand erkennen. Eine fachlich korrekt durchgeführte Schächtung ohne jede Betäubung könnte durchaus humaner und tierfreundlicher sein als jede industrielle Massenschlachtung. Tierärzte der Uni­versität Hannover, die bei den Schlachttieren mittels Elektroenzephalografie (EEG) Messungen vornahmen, bestätigten in einem Gutachten: wird das Tier korrekt fixiert, ein scharfes Messer benutzt und der Schnitt anatomisch korrekt durch­ge­führt, dann leide es nicht, da es diese Art der schnellen Tötung gar nicht mehr bemerken könne. Diese Methode der medizini­schen Diagnostik durch Messung der summierten elektrischen Aktivität des Gehirns mittels Aufzeichnung der Span­nungsschwankungen an der Kopfoberfläche bestätigt nach Meinung vieler orthodoxer Juden und Muslime die Tierfreundlichkeit einer viele Jahrhunderte alten religiösen Vorschrift der frühen abrahamitischen Religionsstifter.

Die Praxis sieht freilich meist völlig anders aus, was Tierschützer mit Recht anprangern. Ein Schlachter und ein oder zwei Helfer können einen geängstigten Jungbullen auch bei bestem Willen kaum so fixieren, dass ein anatomisch einwandfreier Messerschnitt möglich wird. Muslimische Laienmetzger, die im Dämmerlicht eines abgelegenen Bauernhofes mehr oder weniger legal ein oder zwei Schafe schlachten, besitzen oft weder fachliches Können noch ein wirklich scharfes Messer und sind selten in der Lage den Koran zu lesen. Das Ergebnis ist dann keine islamkonforme „Schächtung“, sondern im Gegenteil ein krasser Verstoss gegen alle ein­schlägigen Vorschriften der Scharia. Das Tier leidet, was es laut Koran nicht darf und es entkommt, schwer verletzt, für einige Minuten seinen Schlächtern, um dann elend zu verbluten statt auszubluten. Aus diesem Grund gibt es bei den sunnitischen Muslimen seit fast dreissig Jahren einen Konsens, den rund 75% der Gläubi­gen tragen: eine fachgerechte Betäubung vor der eigentlichen Schlachtung ist nicht verboten. Neuerdings hat der religiöse Führer von Al Azhar in Kairo, eine der bekanntesten, wenn auch nicht die einzige Autorität des sunnitischen Islam, sich der Expertise der Veterinärvereinigung von Istanbul angeschlossen und ist bereit, eine Fatwa (islamisches Urteil) zu erlassen, dass eine elektrische Betäubung vor der Schlachtung als „empfehlenswert“ bezeichnet. Damit stünde einer Einbindung der industriellen Schlachtbetriebe der Türkei in die EU nichts mehr im Wege. Für türkische Muslime, die eine andere Meinung haben als Al Azhar, gäbe es noch immer den nationalen Weg der privat-religiösen „Schächtung“ ohne Betäubung, vorausgesetzt, die türkische Regierung verhält sich ebenso tolerant wie jene des britischen Königreiches. Eine kontrollier­te orthodoxe „Schächtung“ wäre dem Tierschutz zuträglicher als verfassungsrechtlich zweifelhafte Verbote und illegale Hof-Schlachtungen, die auch noch die Gesundheit der Menschen gefährden, die das amtstierärztlich nicht kontrollierte Fleisch später verzehren.

Veterinär- und religionswissenschaftliche Fragen mögen die meisten Deutschen wenig berühren, eher schon die angeblichen „Leitwerte der deutschen Kultur“. Von einer Mehrheit wird unter Berufung auf diese „Leitwerte“ bezweifelt, ob sich das „christlich geprägte Abendland“ mit seinen Werten der Aufklärung von den Muslimen und von den Juden überhaupt religiöse Forderungen gefallen lassen müsse. Die deutsche Öffentlichkeit mag deshalb „koscheres Essen“ oder „Halal Food“ noch ignorieren; die deutsche Wirtschaft kann dies nicht. Der islamische Lebensmittelmarkt wird bis in das Jahr 2010 von heute 150 auf dann 500 Milliarden US-Dollar anwachsen. Ein paar dutzend mittelständischer Aussteller nahm dies Ende Februar während der Fachmesse „Gulfood 2007“ in Dubai zur Kenntnis.

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Stand: 19.03.10.